Ein Aufsatz von Dr. Tilman Breitkreuz und Dr. Jan Oliver Merten sorgt soeben für Aufsehen in der Sozialrechtswelt. In „ Die Sozialgerichtsbarkeit“, Ausgabe 03/14, sprechen sich die angesehen Kommentatoren, beide Richter, in ihrem Beitrag „Die beiden Anwendungsfälle des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X im Lichte gebotener Bestandskraft“ für eine Rückbesinnung auf den konkreten Wortlaut dieser Vorschrift aus.
Die von den Richtern angesprochene Vorschrift des § 44 SGB X ist eine zentrale Regelung im Sozialrecht. Durch sie kann eine frühere, bestandskräftige (nicht begünstigende, d.h. negative) Entscheidung nachträglich durchbrochen/ abgeändert werden. Sozusagen exklusiv im Sozialrecht ist es mit der Anwendung dieser Vorschrift kein Problem, auch frühere Ablehnung nachträglich (d.h. nachdem seinerzeit keine Rechtsmittel erhoben wurden) abändern zu lassen. Problematisch war bestenfalls die Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X, wonach Leistungen nur im Umfang von längstens vier Jahren nachträglich erbracht werden durften.
Der Wortlaut, der von den Kommentatoren analysierten Vorschrift des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X, lautet wie folgt:
Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Das Gesetz nennt demnach zwei Alternativen, die zur Durchbrechung der Bestandskraft führen können:
Bei Erlass des Verwaltungsaktes (Bescheides) wurde
1. das Recht unrichtig angewandt
2. von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erweist
Bei der ersten Alternative kommen die Verfasser zu dem Ergebnis, dass ein Fehler in der Rechtsanwendung bzw. der Rechtsauslegung (bis auf offensichtliche Fehler, wie z.B. dem Übersehen einer Übergangsvorschrift o.ä.) nur dann vorliegen kann, wenn, wie im Revisionsrecht, d.h. wie in den Verfahren vor dem Bundessozialgericht, ein abstrakter Rechtssatz „destilliert“ werden kann. Dieses Erfordernis würde oftmals nicht erfüllt werden können. Extrem problematisch wäre hier auch die Abgrenzung zu einer anderen Norm, der des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X:
Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben.
Diese Norm macht ebenfalls eine Bescheidabänderung möglich, allerdings nur für die Zukunft.
Als nicht weniger kompliziert erweist sich die o.g. zweite Alternative (Sachverhalt unrichtig). Ausgangspunkt ist hier allein eine Tatsachengrundlage (Sachverhalt), nicht jedoch die rechtlichen Schlüsse, die die Behörde hieraus zieht. Der Bestand einer Ehe, das Vorliegen eines Gesellschafts- oder Arbeitsvertrages ist hierbei jedoch zum einen eine Tatsache, zum anderen jedoch auch eine Rechtsform eines bestimmten Lebenssachverhalts und mithin eine rechtliche Würdigung.
Bei der medizinischen Beweiswürdigung stellt sich die Frage, ob sich wirklich die Tatsachenlage oder lediglich deren Bewertung geändert hat. Auch neue Befundberichte, Gutachten etc. genügen den Anforderungen so lange nicht, soweit sie nichts Neues über den damaligen Zustand mitteilen. Es wird eine Diskrepanz zwischen der jeweiligen Sachlage nach der damaligen Perspektive einerseits und der jetzigen andererseits gefordert.
Der 4. und 14. Senat des Bundessozialgerichts (Grundsicherungssenate) werden sich in nächster Zeit mit der Problematik der sogenannten Überprüfungsverfahren beschäftigen müssen. Ungeachtet der dortigen Entscheidungen ist jedoch zu erwarten, dass eine restriktivere Auslegung der Vorschrift des § 44 SGB X Einzug in die Kommentierungen finden und damit auf offene Ohren auf Seiten der Verwaltung und Sozialgerichtsbarkeit treffen wird.
Angesichts dieser Entwicklung ist zu empfehlen, Bescheide der Sozialleistungsträger gründlich und fundiert überprüfen zu lassen und zur Fristwahrung Widerspruch zu erheben. Sollten zur Richtigkeit eines alten Bescheides Bedenken bestehen, sollte schnellstmöglich die Einleitung eines Überprüfungsverfahrens geprüft werden.