Geringfügige versicherungsfreie Beschäftigungen als Mutter der Altersarmut? Eine These, der ich als Rentenberater durchaus zustimmen könnte, auch wenn es noch andere Elternteile gibt. Es dürfte kein Geheimnis sein, dass keine oder nur niedrige Beitragsleistungen zur Rentenversicherung, eine ebenso niedrige (Renten-)Leistung zur Folge haben. Das sich die Politik dieser Wahrheit verschließt, ist auch für die Verfasser eines Reformvorschlages ein Rätsel.
Das sozialversicherungspflichtige Nettoarbeitsverhältnis als
arbeitsmarkt- und sozialpolitische Alternative
(Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, NZA, S.113)
Die Verfasser dieses Reformvorschlags sind über jeden Zweifel erhaben Kenner der Materie: Dr. Griese, ausgewiesener Arbeitsrechtler, Staatssekretär a.D. und zuletzt Vorsitzender Richter am Landesarbeitsgericht Köln, Mitglied des Verfassungsgerichtshofes NRW, Prof. Dr. Ulrich Preis, Direktor des Instituts für deutsches und Europäisches Arbeits- und Sozialrecht der Universität Köln und Dr. David Kruchen als wissenschaftlicher Mitarbeiter an diesem Institut.
Die Verfasser der Studie belegen den heutigen, erschreckend hohen Anteil geringfügiger Beschäftigungen mit folgenden Zahlen:
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- 7,16 Millionen Arbeitnehmer standen im Juni 2012 in einer geringfügigen Beschäftigung
- 24,73 % aller Beschäftigungsverhältnisse liegen unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze
- 61,8 % der geringfügig Beschäftigten sind Frauen, in Privathaushalten 91,3 %
- 1,38 Millionen geringfügig Beschäftigte waren älter als 60 Jahre
- nur 5 % der geringfügig Beschäftigten votierten für eine Versicherungspflicht
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Daraus ergibt sich ein nur unzureichender Schutz, insbesondere in der Rentenversicherung, für annähernd ¼ aller Beschäftigten.
In seiner Entstehung (§ 4 Invalidenversicherungsgesetz von 1889) hatte die Entgeltgeringfügigkeit den Sinn, bei nur minimalen Lohnansprüchen nicht den Schutz der Sozialversicherung (insbesondere Krankenversicherung) „erschleichen“ zu können. In der Zeit seit 2003 wird die versicherungsfreie geringfügige Beschäftigung von der Politik mit dem Ziel verkauft, eine „Brückenfunktion“ zur voll versicherungspflichtigen Beschäftigung darzustellen. Aus geringfügigen Beschäftigungen sollen Vollzeitbeschäftigungen werden. Beurteilen Sie selbst, ob dies realistisch ist oder ob nicht eher aus einer Vollzeitbeschäftigung viele kleine geringfügige Beschäftigungen werden. Die Beschäftigungsstatistiken in den Branchen Gastronomie, Dienstleistung und Einzelhandel belegen diese gegenteilige Auswirkung.
Die Motivation der geringfügig Beschäftigten am bisherigen Modell ist klar:
Brutto = Netto
Die Motivation der Arbeitgeber hat nicht primär den Hintergrund an Sozialversicherungsbeiträgen zu sparen. Der sogenannte Pauschalbeitrag liegt bei voller Belastung bei 28 % und übersteigt demnach den eigentlichen Arbeitgeberanteil von 19,275 %. Die Anreize liegen[list style=“style3″ line=“none“]
- in der Pauschalbesteuerung
- in der Bereitschaft der Arbeitnehmer zu umgerechnet niedrigen Stundenlöhnen (die Begrenzung auf 15 Wochenstunden wurde zum 31.03.2003 abgeschafft)
- in niedrigere Verwaltungskosten
- in der größere Flexibilität (z.B. im Krankheitsfall) bei der Beschäftigung von 3-5 „Geringfügigen“ anstelle einer Vollzeitkraft
- in einer gewissen arbeitsrechtlichen Schattenwelt bei der Ausgestaltung von Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsregelungen, Kündigungsvorschriften und Motivation der „Geringfügigen“ ggf. den Arbeitsgerichtsweg zu wählen (Anwaltskosten sind in 1.Instanz selbst zu tragen)[/list]
Zum Verständnis des Reformvorschlages muss auch auf die sogenannte Gleitzonenregelung eingegangen werden. In dieser Entgeltzone von 450,01 € bis 850,00 € steigt die Belastung des Arbeitnehmers mit Sozialversicherungsbeiträgen von anfänglich 10,73 % bei einem Entgelt von 450,01 € auf den vollen Arbeitnehmeranteil von 20,175 % bei einem Entgelt von 850,01 €. Der Arbeitgeber profitiert von dieser Gleitzonenregelung nicht, er hat stets den vollen Arbeitgeberanteil zu zahlen.
Der Reformvorschlag:
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- Herabsetzung der Geringfügigkeitsgrenze auf eine Bagatellgrenze von 100,00 €
- Wiedereinführung der Stundenzahlbegrenzung auf einen Umfang von 10-15 Wochenstunden
- Volle Beitragspflicht des Arbeitgebers für den Arbeitgeber- und den Arbeitnehmeranteil bei Entgelten bis 450,00 €
- Beitragsbefreiung des Arbeitnehmers
- Abnehmende Beitragsbelastung des Arbeitgebers bei Entgelten ab 450,01 € (Gleitzone bis 850,00 €)
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Die Besonderheit des Reformvorschlages liegt im letzten Punkt, in der sogenannten Gleitzone, d.h. den Entgelten von 450,01 € – 850,00 €.
Durch eine besser bezahlte Beschäftigung kann sich der Arbeitgeber seiner vollen Beitragspflicht auch für den Arbeitnehmeranteil entledigen, bis, bei einem Entgelt von 850,01 € für beide Seiten wieder eine hälftige Verteilung besteht. So sinkt die Beitragsbelastung des Arbeitgebers im Verhältnis zum gewährten Entgelt und stärkt insoweit die Motivation, auch mit einem Entgelt von über 450,-€ zu entlohnen.
Fragen und Antworten zu diesem Reformmodell finden Sie unter
http://rsw.beck.de/rsw/upload/NZA/NZAOnlineAufsatz_2013_01.pdf
Joachim Scholtz
Rentenberater