Politiker, Rentendiskussion und die breiten Massen

Das deutsche Sozialrecht ist seit 1992 in zwölf Sozialgesetzbüchern (SGB I – XII) niedergeschrieben. Wer sich mit dem Rentenrecht beschäftigt, muss hierbei (mindestens) die Bücher

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  • SGB I (Allgemeiner Teil)
  • SGB VI (Rentenrecht)
  • SGB IV (Gemeinsame Vorschriften)
  • SGB X (Sozialverwaltungsverfahren)

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berücksichtigen. Insgesamt über 631 Paragraphen.

Viele diese Vorschriften enthalten ganz wunderbare Sach- und Satzkonstruktionen, die denen des Franz Kafka kaum nachstehen. Ein Beispiel:

Gesucht wird das mit XXX gekennzeichnete Wort, mit derzeit 31.500 Treffern bei Google, bevorzugt aus Politikermündern:

Der XXX wird ermittelt, indem der um die Veränderung des Rentnerquotienten im vergangenen Kalenderjahr gegenüber dem vorvergangenen Kalenderjahr verminderte Wert eins mit einem Parameter alpha vervielfältigt und um den Wert eins erhöht wird. Der Rentnerquotient wird ermittelt, indem die Anzahl der Äquivalenzrentner durch die Anzahl der Äquivalenzbeitragszahler dividiert wird. Die Anzahl der Äquivalenzrentner wird ermittelt, indem das aus den Rechnungsergebnissen auf 1.000 Euro genau bestimmte Gesamtvolumen der Renten abzüglich erstatteter Aufwendungen für Renten und Rententeile eines Kalenderjahres durch eine Regelaltersrente desselben Kalenderjahres aus der allgemeinen Rentenversicherung mit 45 Entgeltpunkten dividiert wird. Die Anzahl der Äquivalenzbeitragszahler wird ermittelt, indem das aus den Rechnungsergebnissen auf 1.000 Euro genau bestimmte Gesamtvolumen der Beiträge aller in der allgemeinen Rentenversicherung versicherungspflichtig Beschäftigten, der geringfügig Beschäftigten (§ 8 Viertes Buch) und der Bezieher von Arbeitslosengeld eines Kalenderjahres durch den auf das Durchschnittsentgelt nach Anlage 1 entfallenden Beitrag der allgemeinen Rentenversicherung desselben Kalenderjahres dividiert wird. Die jeweilige Anzahl der Äquivalenzrentner und der Äquivalenzbeitragszahler ist auf 1.000 Personen genau zu berechnen. Der Parameter alpha beträgt 0,25.

Völlig richtig, es handelt sich bei XXX um den Nachhaltigkeitsfaktor und die ansprechende Vorschrift des § 68 Abs.4 SGB VI zum aktuellen Rentenwert. Haben Sie nicht verstanden? Keine Sorge, es gibt ja die

Schutzklausel 

(1) Abweichend von § 68 vermindert sich der bisherige aktuelle Rentenwert nicht, wenn der nach § 68 berechnete aktuelle Rentenwert geringer ist als der bisherige aktuelle Rentenwert. Die unterbliebene Minderungswirkung (Ausgleichsbedarf) wird mit Erhöhungen des aktuellen Rentenwerts verrechnet. Die Verrechnung darf nicht zu einer Minderung des bisherigen aktuellen Rentenwerts führen.

(2) In den Jahren, in denen Absatz 1 Satz 1 anzuwenden ist, wird der Ausgleichsbedarf ermittelt, indem der nach § 68 berechnete aktuelle Rentenwert durch den bisherigen aktuellen Rentenwert geteilt wird (Ausgleichsfaktor). Der Wert des Ausgleichsbedarfs verändert sich, indem der im Vorjahr bestimmte Wert mit dem Ausgleichsfaktor des laufenden Jahres vervielfältigt wird.

(3) Ist der nach § 68 berechnete aktuelle Rentenwert höher als der bisherige aktuelle Rentenwert und ist der im Vorjahr bestimmte Wert des Ausgleichsbedarfs kleiner als 1,0000, wird der neue aktuelle Rentenwert abweichend von § 68 ermittelt, indem der bisherige aktuelle Rentenwert mit dem hälftigen Anpassungsfaktor vervielfältigt wird. Der hälftige Anpassungsfaktor wird ermittelt, indem der nach § 68 berechnete aktuelle Rentenwert durch den bisherigen aktuellen Rentenwert geteilt wird (Anpassungsfaktor) und dieser Anpassungsfaktor um 1 vermindert, durch 2 geteilt und um 1 erhöht wird. Der Wert des Ausgleichsbedarfs verändert sich, indem der im Vorjahr bestimmte Wert mit dem hälftigen Anpassungsfaktor vervielfältigt wird. Übersteigt der Ausgleichsbedarf nach Anwendung von Satz 3 den Wert 1,0000, wird der bisherige aktuelle Rentenwert abweichend von Satz 1 mit dem Faktor vervielfältigt, der sich ergibt, wenn der Anpassungsfaktor mit dem im Vorjahr bestimmten Wert des Ausgleichsbedarfs vervielfältigt wird; der Wert des Ausgleichsbedarfs beträgt dann 1,0000.

(4) Sind weder Absatz 1 noch Absatz 3 anzuwenden, bleibt der Wert des Ausgleichsbedarfs unverändert.

Vor gut 101 Jahren ist der Vorläufer der Sozialgesetzbücher, die Reichsversicherungsordnung (RVO), in Kraft getreten. Paul Kaufmann, bis 1923 Präsident des Reichsversicherungsamtes, urteilte seinerzeit über das neue Werk:

So wertvoll auch die Vereinigung des gesamtes Rechtsstoffs der sozialen Versicherung in einem Gesetze gewesen sein mag, so hat doch das dadurch bedingte Auseinanderziehen zusammengehöriger Vorschriften in die sechs Bücher der Reichsversicherungsordnung die Vertrautheit der breiten Massen mit der ohnedies verwickelten Invalidenversicherung erschwert.

Die Vertrautheit der breiten Massen ist eine schöne Beschreibung dessen, woran es auch heute fehlt: Die Vertrautheit und das Vertrauen in die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung.

Anstatt Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung durch Einfachheit und Plausibilität der Vorschriften in den breiten Massen aufzubauen, wird durch einen steuerlichen Zuschuss hier, einen versteckten Abzug dort und die Übergangsregelung zur Sonderregelung der Vertrauensschutzregelung versucht, auch noch den letzten Einzelfall „gerecht“ zu regeln. Einem geholfen, neunundneuzig verstört.

Wundern Sie sich nicht über die Fragen in den Rentenantragsvordrucken, ob Sie schon einmal auf einem Rheinschiff gearbeitet  oder das Pensionsstatut der Carl-Zeiss- Stiftung Jena erworben haben? Findet sich alles im „ganz normalen“ Kontenklärungsantrag V100.

Ist der von der Politik eingeschlagene Weg, das Vertrauen in die soziale Sicherheit durch weitere 150 Zusatzparagraphen wieder aufzubauen, wirklich erfolgversprechend? Ich habe so meine Zweifel, ob dann auf der Rückseite des Bierdeckels mit der Steuererklärung noch wirklich Platz für den Rentenantrag sein wird.

Die Auffassungen des Bundesverbandes der Rentenberater e.V. zur aktuellen Diskussion finden Sie hier.

Joachim Scholtz
Rentenberater