Bundestagsdrucksache 17/6317 vom 29.06.2011 – Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen (17/3139)
1. Frage: Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass Altersarmut gegenwärtig ein Problem ist?
Antwort: Nein, Altersarmut ist heute kein verbreitetes Phänomen. Wer im Alter bedürftig ist, dem sichert die Grundsicherung im Alter den Lebensunterhalt. …
2. Frage: Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass Altersarmut in den nächsten Jahren zu einem Problem wird bzw. ein Problem bleibt?
Antwort: Es gibt bisher keine seriöse Studie, die die zukünftige Entwicklung von Personen, deren Gesamtalterseinkommen unterhalb der Grundsicherung liegt, zahlenmäßig verlässlich vorhersagt. Die Entwicklung hängt vielmehr entscheidend von der langfristigen Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Einkommensentwicklung sowie dem Erwerbs- und Vorsorgeverhalten der Menschen ab…
16 Monate später haben wir (plötzlich) ein Problem, viele Rentenexperten und ungleich mehr Ideen dieses Problem anzugehen. Bei diesen Vorschlägen scheint die Machbarkeit und Integration in das bestehende Rentenversicherungssystem nicht weiter von Interesse zu sein.
Beim Automobilbau stellen die großen Autofirmen auf den jährlichen Messen in Genf, Berlin oder Detroit regelmäßig ihre futuristischen Prototypen vor. Es wird die Akzeptanz durch das Publikum geprüft und vielleicht vier Jahre später kommt ein abgeschwächtes, nicht ganz so futuristisches und ohne „Mäusekino“ ausgestattetes Mobil auf den Markt. Dass das Vorgängermodell abrupt mit der Neueinführung an Wert verliert, muss den Automobilbauer nicht kümmern. Dies ist für die Autokäufer umso schmerzlicher, wenn sie das alte Vorgängermodell zwar schon bezahlt, jedoch noch nicht ausgeliefert erhalten haben. Pech gehabt heißt es dann in der Privatwirtschaft, Vertrauensschutz hingegen im Sozialrecht.
Gesetzliche Rentenversicherung bedeutet jahrzehntelanges Erwerben von grundgesetzlich geschützten (Art.14 GG) Ansprüchen. Dieses System kann nicht im Takt der Legislaturperioden vom Umlage- in ein Kapitalverfahren und von der Bürgerversicherung in ein privatversicherungsrechtliches System hin und zurück getauscht werden.
Mit Argusaugen wacht – völlig berechtigt – das Bundesverfassungsgericht über gesetzliche Neuvorhaben im Bereich der Sozialversicherung und ihrer Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz, z.B.
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- Art.3 Abs. 1 GG – Rechtsanwendungsgleichheit –
Der Schutzbereich dieses Artikels ist dann betroffen, wenn wesentlich Gleiches ungleich bzw. völlig verschiedenartige Sachverhalte gleich behandelt werden und dies zu einer diskriminierenden Belastung führt. Beispiele für das Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts:
- BVerfG 03.04.2001 – BVerfGE 103,225 – zum Ausschluss von schutzbedürftigen Personen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung
- BVerfG 15.03.2000 – BVerfGE 102,68 – zur Ungleichbehandlung von freiwilligen und pflichtversicherten Mitglieder der Krankenversicherung der Rentner
- Art.3 Abs.2 und 3 Satz 1 GG – Geschlechterspezifische Ungleichbehandlung –
Der Schutzbereich dieses Artikels ist eröffnet, wenn eine Ungleichbehandlung an das Geschlecht anknüpft. Beispiel: - BVerfG 12.03.1975 – BverfGE 39,169 – mit der Aufgabe an den Gesetzgeber, ein neues verfassungskonformes Hinterbliebenenrecht zu schaffen
- Art. 14 GG – Gewährleistung des Eigentums –
Der Schutzbereich dieses Artikels setzt ein, wenn sozialrechtliche Positionen, die auf nicht unerhebliche Eigenleistung beruhen und der Existenzsicherung dienen sollen, bedroht sind. Hierzu später mehr. - Art. 12 Abs.1 GG – Freiheit der Berufswahl –
Dieser Artikel schützt die Freiheit des Einzelnen, seine berufliche Tätigkeit frei von staatlicher Reglementierung durchzuführen. Diese Vorschrift findet insbesondere im Kassenrecht der Krankenversicherung, d.h. dem Leistungserbringerrecht Anwendung und betraf z.B. den Ausschluss von Heilpraktikern von der Kassenzulassung (BVerfG 10.05.1988 – BverfGE 78, 155, 161) - Art. 6 Abs.1 GG – Schutz von Ehe und Familie –
Hierbei handelt es sich um eine wertentscheidende Grundsatznorm. Sie verpflichtet den Staat, Ehe und Familie vor Beeinträchtigungen Dritter zu schützen und durch eigene Maßnahme u.a. wirtschaftlich zu fördern. Beispiel: - BVerfG 07.07.1992 – BverfGE 87,1 ff.- mit der Aufgabe an den Gesetzgeber, Kindererziehung stärker in die Leistungsgewährung einzubeziehen
- BVerfG 03.04.2001 – SozR 3-300 § 54 Nr.2 – mit der Feststellung, dass es dem Schutz der Familie widerspreche, dass Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung die Kinder betreuen und erziehen und damit einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit des Sozialversicherungssystems leisten, mit gleich hohen Beiträgen wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden.
- BVerfG 17.11.1992 – BverfGE 87, 234, 259f. – wonach dieser Artikel dadurch verletzt wird, dass bei einem Arbeitslosenhilfe- Anspruch verheiratete und zusammenlebende Arbeitslose durch die Anrechnung von Ehegatten Einkommen schlechter gestellt werden, als unverheiratete oder dauernd getrennt lebende Arbeitslose.
- Art.6 Abs.4 GG – Schutz der Mutter – Art. 2 Abs.2 GG – Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit –
Diese Normen bewirken umfangreiche Auswirkungen auf die Bereiche des Krankenversicherungs- und Rehabilitationsrechts.
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Nach diesem Exkurs in das Verfassungsrecht lässt sich feststellen, dass das Sozialrecht umfangreichen Prüfungen auf seine Verfassungsmäßigkeit unterlieg. Schon aus diesem Grund müssen viele der jetzt in den Raum geworfenen Vorschläge als populistisch abgetan werden.
Tatsächlich gefährden immer neue Rufe nach einer Altersvorsorge außerhalb der gesetzlichen Sozialversicherung deren verfassungsmäßigen Status Quo. Das Sozialstaatsprinzip der Art. 20, 28 GG rechtfertigt staatliche Maßnahmen, deren Ziel die Gewährung sozialer Mindeststandards durch Umverteilung und Mitbestimmung, die Begrenzung wirtschaftlicher Machtstellungen und die Absicherung sozialer Risiken hat. Für diesen verfassungsmäßigen Auftrag bedient sich der Staat auch der gesetzlichen Sozialversicherung. Wird dieses Ziel durch die gesetzliche Rentenversicherung nicht mehr erreicht, droht ein Verlust verfassungsgemäß erworbener Privilegien, wie z.B. des Eigentumsschutzes des o.g. Art.14 GG.
Als eine maßgebliche Voraussetzung für das Vorliegen des in Art. 14 GG gewährten Eigentumsschutzes hat das Bundesverfassungsgericht gefordert, dass die Leistung „nach der objektiven Zielsetzung der Sozialleistung der Existenzsicherung dienen muss“ (BVerfG 16.07.1985 – BverfGE 69,272,300 -). Ist die Existenzsicherung durch die gesetzliche Rente nach der derzeitigen politischen Diskussion tatsächlich noch objektive Zielsetzung durch die Politik?
Dreh- und Angelpunkt der begonnenen Rentendiskussion war die Feststellung, dass insbesondere die gesetzlichen Renten von Frauen kaum mehr zur Existenzsicherung dienen.
Ursache hierfür sei u.a. das unständige Versicherungsleben vieler Frauen (durch Geburten und Kindererziehung) und deren Tätigkeit in versicherungsfreien „400.-€- Jobs“.
Parallel zu diesen Klagen und als ob keinerlei Bezug bestehen würde, wurde der Beitragssatz der Rentenversicherung von 19,9 auf 19,6 % und sodann auf 19,0 % gesenkt und die Erhöhung des versicherungsfreien Entgeltes von 400.- auf 450.- € beschlossen. Nach diesen Beschlüsse und der aktuellen „Hilfe, Hilfe, die Rente reicht nicht –Diskussion“ kamen sofort Retter herbeigeeilt und stellten fest, dass nur weitere private Vorsorge Abhilfe schaffen könne.
Wie sieht diese private Vorsorge aus? Ein Teil des Lohns, aus dem bisher Beiträge in die Rentenversicherung gezahlt wurden, wird sozialversicherungsfrei einer Versicherung oder Bank zugeführt. Ergebnis: Die gesetzliche Rente sinkt weiter. Ob die privaten Vorsorgeleistungen in der Zukunft dann nochmals, dann in Form eines Rettungsschirms für die betroffene Bank oder Versicherung, ein zweites Mal bezahlt werden müssen, wird die Zukunft zeigen.
Ein Irrweg der hier eingeschlagen werden soll.
Tatsache ist, dass das bisherige System nicht hektisch und gegen das Grundgesetz umgestellt werden kann. Tatsache ist ebenso, dass nur das gesetzliche Sozialversicherungssystem den verfassungsmäßigen Auftrag für einen Sozialstaat gewährleisten kann. Tatsache ist ebenfalls, dass die meisten bisherigen Vorschläge einer verfassungsmäßigen Prüfung nicht standhalten und eine wirkliche Lösung der Probleme für Jahre verzögert wird.
Dabei wären Tatsachen, wie die niedrige Renten insbesondere bei Frauen, relativ einfach beherrschbar – würde ein tatsächlicher politischer Wille vorliegen.
Die Frauen, die jetzt in Altersarmut leben oder in den nächsten 10 Jahren rentenberechtigt sein werden, haben zumeist vor dem 01.01.1992 Kinder geboren. Für die Geburt dieser Kinder vor dem 01.01.1992 wird ein Jahr Kindererziehungszeit gewährt. Dies entspricht ca. 28,07 € (alte Bundesländer) bzw. 24,92 € monatlicher Rentenleistung. Gesetzliche Grundlage ist hierfür die Vorschrift des § 249 SGB VI.
Die Grundvorschrift des § 56 SGB VI gewährt bei einer Geburt nach dem 31.12.1991 eine Kindererziehungszeit von drei Jahren. Dies bedeutet bei einer Geburt nach 1991 eine um 56,14 € (49,84 €) höhere monatliche Rentenleistung als bei einer Geburt vor 1992. War die Erziehung von Kindern vor 1992 oder die Vereinbarkeit mit einer Berufstätigkeit der Mutter einfacher? Wohl kaum!
Die Ausweitung der Kindererziehungszeit auf einen Zeitraum von drei Jahren war seinerzeit durch das Bundesverfassungsgericht mit der Entscheidung vom 12. März 1996, (1 BvR 609, 692/90) erzwungen worden. Die Beschränkung des Gesetzgebers auf den Stichtag 01.01.1992 konnte das BVerfG in seiner weiteren Entscheidung nicht abwehren.
Seit diesen Entscheidungen wurde in unzähligen Petitionen an den Bundestag eine Rücknahme der Stichtagsregelung und der Schlechterstellung von Geburten vor 1992 gefordert. Angesichts der Kassenlage der öffentlichen Hand und der Rentenversicherung wurden diese Petitionen regelmäßig zurückgewiesen:
Über die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen hinaus verweist der Petitionsausschuss auf die wirtschaftlichen und finanziellen Folgen, die eine weitergehende Anrechnung der Kindererziehungszeit mit drei Jahren auch für Geburten vor 1992 hervorrufen würde. Eine Ausweitung der Anrechnungsregelung würde Mehrkosten in Höhe von über 12 Mrd. € jährlich verursachen. Angesichts der finanziellen Lage der öffentlichen Haushalte im Allgemeinen und der gesetzlichen Rentenversicherung im Besonderen sowie im Hinblick auf die absehbare demografische Entwicklung besteht für eine derartige Belastung kein Finanzierungsspielraum. Der Ausschuss vermag insbesondere Mehrausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung in der genannten Größenordnung nicht zu empfehlen, weil diese nur durch eine Anhebung der Beitragssätze gedeckt werden könnten, welche den Arbeitsmarkt spürbar belasten würde.
(Auszug aus dem Petitionsbeschluss des Bundestages vom 24.10.2010)
Bei zwei Geburten vor 1992 hätte eine Gleichstellung des Umfanges der Kindererziehungszeiten eine sofortige Erhöhung der Renten der Mütter um 112,28 € (Ost: 99,68 €) zur Folge. Hierzu bedürfte es keines „RV-Lebensleistungsanerkennungsgesetzes“, sondern lediglich der Streichung der Vorschrift des § 249 SGB VI – fertig.
Auf die kontinuierliche Schlechterbewertung von (staatlich vorgeschriebenen) Wehr- und Zivildienstzeiten bin ich schon in einem früheren Beitrag eingegangen.
Die Höhe vieler Renten ist niedrig und wurde von der Politik mit der Schlecht- oder Nichtbewertung von Ausbildungs-, Kindererziehungs- und Wehr-/Zivildienstzeiten bewusst betrieben.
Parallel zur Absenkung der individuellen Rentenansprüche wurde auch die Absenkung des allgemeinen Rentenniveaus beschlossen, um dann erschreckt festzustellen, dass die Renten noch niedriger werden. Dies ist jedoch nicht Schuld des auch in Krisenzeiten gut funktionierenden Systems der gesetzlichen Rentenversicherung, sondern einer durch andere Interessen geprägten Politik.
Wenn ich ein Glas mit Wasser habe und den Inhalt ausschütte, kann nicht das Glas für die Leere verantwortlich gemacht und ein anderes Glas verlangt werden.
Es heißt in der aktuellen Diskussion sehr sorgsam Vorschläge auf die wirklichen Nutznießer zu prüfen. Verfassungsmäßig in den letzten 60 Jahren erworbene Grundrechte stehen auf dem Spiel und sollten nicht tagespolitischer Hektik – bis das nächste Schwein durch das Dorf getrieben wird – leichtfertigt geopfert werden.
Joachim Scholtz
Rentenberater